„Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“
Völlig in sich versunken, ab und zu mit einem leisen Lächeln im Gesicht, sitzen die Bewohnerinnen und Bewohner des Pfarrer Kurt Velten Altenpflegeheimes in Sohren im Halbkreis in der Cafeteria. Sie hören Phillip Sponbiel zu, der Märchen erzählt. Wobei – erzählen trifft es nicht ganz: Der Schauspieler aus Berlin inszeniert die Grimm´schen Geschichten, gibt den verschiedenen Gestalten eigene Stimmen und ahmt bei den „Bremer Stadtmusikanten“ die Laute von Esel, Hund, Katze und Hahn nach. „Märchenstunde“ steht fast ein bisschen lapidar auf dem Zettel, der auf dem Esstisch liegt – aber diejenigen, die im November beim ersten Mal dabei waren, als zur Märchenstunde eingeladen wurde, haben sich voller Vorfreude pünktlich eingefunden und wollten den neuen Auftritt auf keinen Fall verpassen. Mit dem „Froschkönig“ ging es diesmal los. „Dieses Märchen ist ja als `Der Froschkönig oder eiserne Heinrich´ bekannt – dabei spielt der erst ganz am Schluss eine Rolle, wissen Sie noch?“, fragt Phillip Sponbiel, bevor er startet. Einige Zuhörerinnen und Zuhörer nicken. Und obwohl sie alle die Märchen schon als Kinder gehört haben, sie ihren eigenen Kindern und oft auch den Enkelkindern vorgelesen haben, wird ihnen offenbar zu keinem Zeitpunkt langweilig: Sie lassen sich gern mitnehmen in diese vertraute Welt. Der Frosch, der darauf beharrt, dass die Königstochter das ihm gegebene Versprechen, bei ihr leben zu dürfen, einhält, das Schicksal des Kindes, das in „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ mit einer Glückshaut geboren wurde und dem Teufel seine Geheimnisse und dazu noch drei goldene Haare entreißen kann und die landesflüchtigen Tiere, die in Bremen als Stadtmusikanten erfolgreich sein wollen und nebenbei Räuber aus ihrem Haus im Wald vertreiben – das alles erleben sie mit, tauchen ein in diese Geschichten. Sobald der Schauspieler beim glücklichen Ende angelangt ist, kommt Bewegung in die Runde. Der Satz „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ wird von vielen mitgesprochen. Für nächste Woche kündigt Phillip Sponbiel noch an, dass Geschwister im Mittelpunkt stehen werden – unter anderem bringt er dann „Brüderchen und Schwesterchen“ und die Geschichte von Glücksmarie und Pechmarie – also „Frau Holle“ mit.
Märchen und Demenz: kognitive Leistungsfähigkeit erhalten
Dass die Märchen von einem Profi-Schauspieler vorgetragen werden, ist Teil eines ganz besonderen Programmes, das sowohl im Pfarrer Kurt Velten Altenpflegeheim, als auch im benachbarten Dr. Theodor Fricke Altenpflegeheim in Simmern umgesetzt wird. Dieses Programm kommt von MÄRCHENLAND, einem Zentrum für Prävention und Gesundheitsförderung aus Berlin, und beide Einrichtungen der Seniorenhilfe der Stiftung kreuznacher diakonie sind von diesem Kursangebot überzeugt. Dabei geht es dem Deutschen Zentrum für Märchenkultur beim Kurs „Es war einmal…. Märchen und Demenz“ darum, mit Hilfe lebendig erzählter Märchen die kognitive Leistungsfähigkeit der Zuhörerinnen und Zuhörer zu erhalten, ihre Erinnerungen an die alten Geschichten zu wecken und sie wach zu halten und damit gleichzeitig ihre psychische Gesundheit zu stärken. In der Praxis sorgen die Märchenstunden auch für eine Entlastung des Pflege- und Betreuungspersonals. Das haben die Mitarbeitenden schon nach der ersten Märchenstunde erlebt: „Bewohnerinnen und Bewohner mit Demenz haben sich bei der Märchenstunde an diesen immer wiederkehrenden Erinnerungsanker ‚Es war einmal‘, mit dem jedes Märchen beginnt, erinnert und mitgesprochen. Sind einige von ihnen sonst recht unruhig, so haben wir sie jetzt viel ruhiger erlebt. Am nächsten Tag war die Märchenstunde immer noch Thema. Die Menschen haben sich darüber ausgetauscht, wie toll das war, die Geschichten nicht einfach nur vorgelesen zu bekommen, sondern sie durch den Schauspieler erleben zu können“, schildert der Einrichtungsleiter des Pfarrer Kurt Velten Altenpflegeheims, Carsten Bachert.
Schulung für Mitarbeitende aus der Sozialen Betreuung
Im Anschluss an die Vorführungen erhalten die Mitarbeitenden eine Schulung durch den Demenzerzähler, der als Dozent für die Weiterbildung zur Märchenvorleserin beziehungsweise zum Märchenvorleser tätig ist. Die Mitarbeitenden aus der Sozialen Betreuung bekommen dabei erhalten zunächst Hintergrundinformationen zum partizipativen Demenzerzählen in Pflegeeinrichtungen sowie über die Funktion von Märchen als Erinnerungsanker. Ganz praktisch wird auch die Integration der Märchenlesung in den Pflegealltag besprochen, die Auswahl der Märchen und Besonderheiten des Vorlesens beleuchtet. Außerdem gibt es Übungsstunden zu Lautbildung und Sprachtraining, Vorleseübungen und den Einsatz von Körpersprache. Nach diesem Kurs schlüpfen sie selbst als Märchenerzählerinnen und -erzähler in den schillernden Märchenmantel, der zur Ausstattung des Koffers gehört und wenn künftig die Märchenglocke erklingt, dann werden alle wissen, dass jetzt wieder Zeit ist für „Es war einmal…“. Der Kurs wird als Präventions- und Gesundheitsmaßnahme für Mitarbeitende und Bewohnerinnen und Bewohner der Einrichtungen in Kooperation mit der AOK Rheinland-Pfalz Saarland durchgeführt. Mit knapp 10.000 Euro durch die AOK finanziell unterstützt, wird es anschießend eine wissenschaftliche Auswertung geben. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler begleiten das Projekt bereits seit Längerem. Sie wollen herausfinden, wie genau sich die Märchenstunden auf die Pflege und den Alltag in den Senioreneinrichtungen auswirken.