Mit „Leben im Sterben“ ist die ökumenische Woche für das Leben 2021 überschrieben, die am 17. April startet. „Es wird gelebt bis zum letzten Atemzug“, macht Annette Stambke deutlich, die seit mehr als elf Jahren als Seelsorgerin im Elisabeth Jaeger Haus und seit sieben Jahren im Wohnpark Sophie Scholl Seniorinnen und Senioren, ihre Angehörigen und die Mitarbeitenden begleitet. Die Diakonin nimmt die „Woche für das Leben“ zum Anlass, um Einblicke in den Sterbeprozess zu geben, der bei vielen ungeahnte Kräfte mobilisiert.
Sie schildert, dass sie zu Beginn der Corona-Pandemie, als in den Einrichtungen der Seniorenhilfe der Stiftung kreuznacher diakonie ein strenges Besuchsverbot ausgesprochen werden musste, eine völlig neue Erfahrung gemacht hat: Die Lebensgefährtin eines Bewohners nahm sich die Zeit, sich mit ihm zusammen in die Quarantäne der Einrichtung zu begeben, sie hielt nur noch ganz wenig Kontakt nach draußen. Beide wussten, dass es an der Zeit war, voneinander Abschied zu nehmen. „Nach seinem Tod hatte sie gebeten, im Zusammenhang seiner Aussegnung noch ein weiteres Ritual vollziehen zu dürfen“, erzählt Annette Stambke. „Ihr Lebensgefährte war ein Meister des Budo und jahrelang ein wichtiger Lehrer in dieser Disziplin gewesen. So vollzog sie im Anschluss an unsere christliche Aussegnung den rituellen Abschiedsgruß dieser japanischen Kampfsportart mit der Bitte um Geleit aus diesem Leben auf eine neue Ebene des Seins. Dieses „Hinüberbegleiten“ und die Verbindung beider Rituale waren sehr würdevoll und sehr bewegend.“ Budo bedeutet „Der Weg des Kampfes” und steht für den Prozess des Lernens, aber auch für die Persönlichkeitsentwicklung und des Charakters. Er zeichnet sich dadurch aus, dass es sich gleichermaßen mit dem körperlichen Weg als auch mit dem philosophischen Lebensweg befasst.
Ob sich der Sterbeprozess über einen längeren Zeitraum hinzieht oder ob es ganz schnell geht „das ist ganz individuell“, weiß die Diakonin. Die meisten Menschen, die in eine Senioreneinrichtung ziehen, haben sich mit dem Thema Sterben schon auseinandergesetzt. „Die allerwenigsten ziehen ein und haben noch keinen Gedanken ans Sterben verwendet.“
Dabei ist es aber beileibe nicht so, dass das Sterben müssen ab jetzt den Alltag prägt. Im Gegenteil. „Gerade diejenigen, die nach einem Krankenhausaufenthalt zu uns kommen, erleben hier oft zunächst Erholung und Stabilität, entwickeln eine Zufriedenheit, wenn sie sich gut aufgehoben fühlen. Sie wollen gerne noch ein Weilchen leben.“ Der Sterbeprozess an sich sei nicht absehbar oder planbar und auch gläubige Menschen tun sich mit dem Sterben nicht unbedingt leichter als nichtgläubige Menschen. „Unser Anliegen ist es, den Prozess individuell und professionell zu begleiten.“ Dazu sind die Teamgespräche sehr wichtig, bei denen dann auch der Einsatz von palliativer Pflege, Versorgung und Begleitung besprochen wird, und die Angehörigen eingebunden werden. „Allein in diesen Gesprächen passiert ganz viel an Leben. Wir tauschen uns noch einmal intensiv darüber aus, was für ein Mensch das ist, welchen Beruf er hatte, welche Einstellung er zur Familie hatte, wie sein Alltag aussah – eine ganz intensive Auseinandersetzung mit dem Leben des Menschen und seiner Beziehung zu den Angehörigen.“
Diakonin Annette Stambke berichtet von einer Bewohnerin, deren Wesensveränderung dem Team aufgefallen war und aufgefangen wurde: Weit über 90 Jahre alt, sehr religiös und depressiv, äußerte sie den Wunsch, nicht mehr essen und trinken zu wollen und den Großteil der Medikamente abzusetzen. Dann wurde aus der sehr zurückgezogenen Frau plötzlich ein aufgeschlossener, mitteilsamer, lebhafter und humorvoller Mensch. Letztendlich dauerte der Sterbeprozess bei ihr länger als von den Pflegekräften vermutet – „es war, als hätte sie diese Zeit noch gebraucht“. Annette Stambke hat beobachtet, dass „im Sterbeprozess wohl selbst auch eine Kraft steckt, ihn zu durchschreiten, zu überstehen.“ Vielleicht ist es diese Beobachtung, dieses Vertrauen, das der 55-Jährigen selbst die Kraft verleiht, ihrer Arbeit in der so ausgeglichenen, ruhigen und frohen Art und Weise nachzugehen, die ihre Persönlichkeit ausmacht und die von Kolleginnen und Kollegen, Bewohnerinnen, Bewohnern und ihren Angehörigen so geschätzt wird.
Die Aktion „Woche für das Leben“ geht auf eine Initiative der Deutschen Bischofskonferenz und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) zurück. Seit 1994 wird sie gemeinsam mit dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland durchgeführt. Mit Veranstaltungen und Aktionen rund um dieses Thema leisten die Kirchen seit mehr als 20 Jahren einen wichtigen Beitrag zur Bewusstseinsbildung für den Wert und die Würde des menschlichen Lebens.