Prader Willi Syndrom: Klare Regeln erleichtern den Alltag
Tobias Kolling zeigt auf ein Foto in der Bildergalerie seiner Wohngruppe im Prader Willi Zentrum in Bad Sobernheim: „Das bin ich!“ Das Bild ist zehn Jahre alt und zeigt einen Mann, den man heute kaum wiedererkennt – 121 Kilo wog er damals, heute 75 Kilo. Der 33-Jährige war 2011 der erste Bewohner des neu eröffneten Kompetenzzentrums, das heute wie vor zehn Jahren Anlaufstelle für Betroffene dieser Gen-Variante überwiegend aus Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Baden-Württemberg ist.
Wer mit dem Prader Willi Syndrom (PWS) geboren wird, dem „fehlt ein Chromosom vom Vater“, erklärt Tobias Kolling. Es ist eine Laune der Natur und kann jeden treffen – die Wahrscheinlichkeit liegt bei 1:15.000 Neugeborenen. Die Folgen können fehlendes Sättigungsgefühl, herausforderndes Verhalten wie z.B. Wutausbrüche und kognitive Beeinträchtigungen sein, sagen die Fachleute. Für Tobias Kolling aus Sommerloch an der Nahe bedeutet das, dass er seinem Alltag „strengen Regeln“ unterwerfen muss, sonst gerät sein Leben, seine Stimmungen und sein Gewicht aus den Fugen.
Vor einigen Jahren war die Sterblichkeit dieser Menschen an den Folgen von PWS im frühen Alter hoch; heute erreichen sie das durchschnittliche Alter der Gesamtbevölkerung. Tobias und seine Mitbewohner haben hier die Chance, sich in einem geschützten Raum zu entwickeln und alt zu werden. Unterstützungsmöglichkeiten idealerweise bereits ab dem Säuglingsalter, wie dem Einsatz von Wachstumshormonen, Ernährungsmanagement, gute medizinische Versorgung, Physiotherapie, hat sich die Lebenssituation von Menschen mit dem PWS in den vergangenen Jahren stark verbessert. An diesem Fortschritt, der seit der ersten Entdeckung der Krankheit 1956 bis heute gemacht wurde, ist auch Tobias Kolling ein Stück weit beteiligt. Immer wieder kommen betroffene Eltern und Kinder in das Kompetenzzentrum, um sich über diese sehr seltene Beeinträchtigung zu informieren, Rat, Hilfe und Austausch zu finden. Tobias Kolling erzählt dann, wie sein Leben sich verändert hat.
Entlastung für Eltern und Kinder
Seine Mutter Andrea und die anderen Eltern sind froh, dass ihre erwachsenen Kinder hier ein Zuhause gefunden haben. Wie so oft bei seltenen „Erkrankungen“, hat es nach der Geburt sehr lange gedauert, bis sie wussten, dass ihr Kind diese Gen-Variante hat. Eine ungewisse, anstrengende und nervenaufreibende Zeit. Die Gründung der Wohngruppe bei der Stiftung kreuznacher diakonie hat auch die Eltern entlastet. „Als Tobias in die Pubertät kam und erwachsen wurde, war klar, dass wir für ihn einen Wohnortnahen Platz finden mussten“, erzählt Andrea Kolling. Der große, schwere junge Mann war mit seinen Wutausbrüchen und Eigenheiten, die das PWS mit sich bringt, der Familie über den Kopf und die Kräfte gewachsen.
Am 1. November 2011 wurde die Wohngruppe des Kompetenzzentrums in Bad Sobernheim eröffnet. „Wo sind die Jahre hingegangen“, sagt Tobias, der Pionier der Wohngruppe. Er erzählt, wie dick er damals war, dass er sich heute besser bewegen kann, einen besseren Gleichgewichtssinn, schönere Kleider tragen kann und eine Freundin in der Wohngruppe hat. „Es ist vieles leichter geworden“, erzählt er, der normalerweise in der Werkstatt in Bad Sobernheim arbeitet. Er meint damit nicht nur sein Gewicht, sondern auch sein Leben.
Tagesstruktur und Essensregeln sind unverzichtbar
Neben der Arbeit füllt ein dichtes Sportprogramm seinen Alltag: Fahrradfahren, Nordic Walking, Schwimmen, Zirkeltraining. Die Regeln für das Essen sind streng, denn Menschen mit Prader Willi Syndrom haben Angst zu verhungern. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass sie alles essen. Aus diesem Gefühl der Unsicherheit heraus können auch heftige Aggressionen auftreten. Tobias Kolling lernt in kleinen Schritten, außerhalb der Einrichtung zurecht zu kommen: Einkaufen, Ausflüge und Freizeiten sind ein gutes Trainingslager.
Was von außen betrachtet als streng und unerbittlich betrachtet wird, empfindet Tobias Kolling mittlerweile als Erleichterung. Er pocht auf die Einhaltung, wenn neue Mitarbeiter die Regeln lax handhaben. Es gibt keinen Nachschlag, sondern nur das vorgegebene Maß beim Essen. Das verschafft ihm Sicherheit, Selbstbewusstsein und Ruhe. Aus den „dicken“ Kindern und Jugendlichen, bei denen schon Mal Teller und Tassen geflogen sind, wenn es nicht das Essen gab, dass sie sich vorgestellt haben, sind in den vergangenen zehn Jahren junge Erwachsene geworden, die sich von ihren Eltern abgenabelt haben und ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen. Tobias Kollings Fazit: „Am Anfang hatte ich Heimweh, jetzt möchte ich hierbleiben!“ Und das kann er auch.