Das eigene Kind in ein Heim geben? In dieser Frage steckt für die Eltern von beeinträchtigten Kindern oft der blanke Horror. Elvira und Hans-Joachim Seddig haben sich trotzdem mit einem klaren „Ja“ dafür entschieden, dass ihr 39jähriger Sohn Michael in eine Wohneinrichtung umzieht. Und so beginnt für den Sohn, seine Eltern und seine Schwester ein neues Leben. Der Weg, bei dem die Experten des Autismus Kompetenzzentrums der Stiftung kreuznacher diakonie die Familie begleitet haben, war lang. Die Geschichte diese Familie ist kein Einzelfall.
Michael Seddig wurde mit einer genetischen Variante geboren, die zu Autismus-Spektrums-Störung führen kann. Die Folge davon: Das Kind nimmt die Welt vollkommen anders wahr. Und diese Welt stuft Menschen wie Michael als beeinträchtigt ein. Für seine Eltern heißt das: Sie kämpfen seit seiner Geburt dafür, dass Michael seinen Platz im Leben findet – inzwischen seit 39 Jahren.
Ausgrenzung und Stigmatisierung betreffen oft die ganze Familie
Elvira Seddig kennt jedes Details im Leben des Sohnes, der nun ein erwachsener Mann ist. Sie und Ehemann Hans-Joachim haben durchlebt, was viele Familien von Menschen mit Behinderung erfahren müssen: Ihre Kinder bleiben immer irgendwie „Kinder“. Ihr Sohn ist zwar erwachsen geworden, aber nicht selbständig. Er hat keine Familie gegründet und keine Karriere gemacht, über die man mit der Nachbarschaft plaudern kann. Für sie war das auch nicht relevant: Seddigs Alltag war ein völlig anderer. Thomas Rüsche-Lohr vom Kompetenzzentrum für Menschen mit Autismus in Bad Kreuznach beobachtet das immer wieder: „Ausgrenzung und Stigmatisierung macht die Familien oft einsam, weil viele Menschen nicht damit umgehen können, wie Autisten sich verhalten. Also machen sie lieber einen Bogen um die ganze Familie.“ Gleichzeitig werden Eltern und Kinder gemeinsam alt. Elvira und ihr Mann waren und sind immer für Michael da: Stärken fördern, in schwachen Momente Sicherheit bieten. Da bleibt Vieles auf der Strecke: Freunde, Freizeit, Erholung. Dafür drehen sich die Gedanken immer darum: „Was wird aus Michael, wenn wir nicht mehr können? Die Autismus-Ambulanz unterstützt und entlastet solche Familien in ihrem Zuhause. Thomas Rüsche-Lohr weiß daher: „Sorgen, Ängste, ein schlechtes Gewissen und der latente Vorwurf, das eigene Kind in fremde Betreuung zu geben, belasten vielfach die Verantwortlichen zusätzlich.“ Er weiß, dass die Eltern Zeit, Hilfe und Vertrauen benötigen, um für ihr Kind eine gute Entscheidung treffen zu können.
Lebenslanges Lernen gilt auch für Menschen mit Autismus
Hans-Georg Hilgert, Mitarbeiter der Autismus-Ambulanz, begleitet Michael und seine Familie seit 2019: Der Experte hat Vertrauen aufgebaut. Nach dem TEACCH-Ansatz wurden die Inhalte der Fördereinheiten immer weiter ausgebaut, an Kompetenzen und Vorlieben angesetzt, aber nie Zwang und Druck aufgebaut. Im Laufe von vielen Jahre hat Michael diese Arbeitsweise immer mehr angenommen und konnte sich auf neue Förderinhalte einlassen. Michael hat die letzten Jahre große Etappenziele geschafft, z.B. ging er wieder mit in den Garten, er fuhr im Auto mit seinen Eltern zum Einkaufen, ging zu seiner Schwester und spazierte zu einem Spielplatz und machte sogar Fahrradausflüge mit dem Tandem. Alltägliches, das früher nicht möglich gewesen wäre. Thomas Rüsche-Lohr erklärt: „Oft scheint eine Entwicklung zu Ende oder erst gar nicht möglich, doch auch im Autismus-Spektrum gilt: Lebenslanges Lernen ist möglich und geht nicht, gibt es nicht!“
Elvira und Hans-Joachim wussten trotzdem, dass sie irgendwann eine Entscheidung treffen müssen. Sie haben sich frühzeitig informiert und gründlich umgeschaut: „Unsere Entscheidung ist seit langem auf das Haus Rogate in der Stiftung kreuznacher diakonie gefallen. Die Wohnatmosphäre, das Konzept und die Mitarbeitenden, die dort arbeiten, haben uns überzeugt!“ Die Aufnahme von Michael wurde vom Teamleiter Christopher Cayot und seinen Kolleg*innen gemeinsam mit den Eltern und der Autismus Ambulanz intensiv vorbereitet. Vor ein paar Wochen war es dann soweit. Im Haus Rogate, einer Wohneinrichtung des Kompetenzzentrums, wurde ein Platz frei: „Ein Glück!“, sagt Elvira Seddig. Klar wird Michael zuhause vermisst. Aber im Haus Rogate hat er ein neues Leben begonnen: Geht Schwimmen und Einkaufen, hat Kontakt zu Gleichaltrigen, nimmt an Beschäftigungsangeboten der Tagesstruktur im Haus teil und macht viele ungewohnte Schritte in ein neues Leben. Für einen Menschen mit Autismus, der Struktur braucht, ein großes Abenteuer. Seine Eltern besuchen ihn jede Woche und freuen sich, dass ihr Sohn ein eigenes Leben hier hat – unabhängig von seinen Eltern. Und die Eltern? Wie alle Eltern müssen wir uns daran gewöhnen, dass das Kind jetzt nicht mehr da ist. Nach 39 Jahren ist das Paar wieder gemeinsam unterwegs – alleine: „Im Herbst haben wir ein Wohnmobil gemietet und besuchen Freunde am Meer!“ So beginnt auch für das Ehepaar Seddig ein neues Abenteuer.