Bad Kreuznach | Autismus Ambulanz bringt Michael ein neues Leben

Zwei Männer spielen Darts - Kompetenzzentrum Autismus der Stiftung kreuznacher diakonie

Michael Seddig ist wieder offen für Aktivitäten

Was bedeutet Autismus für die Menschen, die von dieser genetischen Variante betroffen sind? Im Autismus Kompetenzzentrum der Stiftung kreuznacher diakonie kennt man die ganze Bandbreite des Spektrums und seine Auswirkungen auf den Alltag der Betroffenen und ihrer Angehörigen. Michael Seddig ist einer von Ihnen. Er ist 37 Jahre alt und seine Geschichte zeigt, wie wichtig es ist, dass die Aufklärungs- und Beratungsarbeit weitergeht.

Das Haus der Familie Seddig in Morschheim liegt in einer ruhigen Straße. Hier leben Elvira und Hans-Joachim, 65 und 66 Jahre alt, mit ihrem Sohn Michael. Ein bisschen scheint die Zeit hier still zu stehen. Das schmucke Einfamilienhaus ist liebevoll dekoriert. Im ersten Stock gibt es zwei Zimmer - Michaels Lebensräume. Über dem ordentlich gemachten Bett steht in großen Buchstaben Michael an der Wand, im anderen Zimmer gibt es einen ganzen Schrank voller Spiele.

Kompetenzzentrum für Menschen mit Autismus berät ambulant

Thomas Rüsche-Lohr. Teamleiter des Kompetenzzentrums für Menschen mit Autismus, kennt viele solcher Familien von Betroffenen, die sich so eingeigelt haben: „Ausgrenzung und Stigmatisierung macht die Familien oft einsam“, sagt er, „weil viele Menschen in der Öffentlichkeit nicht damit umgehen können, wie Michael sich verhält. Also machen sie lieber einen Bogen um die ganze Familie.“

Seit Juni 2019 kommt Hans-Georg Hilgert, sein langjähriger Mitarbeiter in der ambulanten Förderung und Beratung im Kompetenzzentrum in Bad Kreuznach, zweimal pro Woche zu der Familie, deren Leben sich lange Zeit auf diese eigenen vier Wände konzentriert hat. Michael spricht nicht so wie die anderen in der Welt vor der Tür des Einfamilienhauses. Die Eindrücke, die er früher von dieser Welt bekommen hat, haben ihn dazu bewogen, sich zurückzuziehen. Sie haben ihm vermutlich Angst gemacht und die Welt draußen, war nicht mehr seine Welt.

Hans-Georg Hilgert und Michael machen seit Jahren kleine Schritte, um Michael wieder Lust auf das Leben, andere Menschen und Eindrücke zu machen. Über Jahre hat der Mann keinen Schritt vor die Tür gemacht.

Seine Eltern durchleben das, was viele andere Eltern von Menschen mit Behinderung erfahren müssen, deren Kinder immer irgendwie „Kinder“ bleiben, deren Kinder nicht wirklich erwachsen werden und einen Platz in dieser Gesellschaft finden, Familie gründen und berufliche Erfolge feiern. Ihr Michael bleibt zuhause – vielleicht für immer. Oder zumindest so lange, bis die Eltern selbst nicht mehr können. Zu Freunden eingeladen werden, Urlaub, als Paar etwas gemeinsam zu unternehmen – das ist für Eltern von Menschen wie Michael auch eine fremde Welt geworden. Die Selbstisolation des Kindes wird ihnen von der Umgebung aufgesetzt. Denn Michael kann nicht alleine bleiben. Er kann aber auch nicht mitkommen. Das Haus ist für alle der einzige Ort, an dem das gemeinsame Leben stattfinden kann.

Arbeit nach TEACCH-Ansatz gibt Struktur 

Für Hans-Georg Hilgert lässt Michael die schmale Zugbrücke herunter. Durch die vertrauensvolle und fachlich verständige Zusammenarbeit mit dem Skd-Mitarbeiter konnten sich die Lebens- und Sozialräume in kleinen Schritten erweitern. Seit ein paar Monaten geht Michael wieder vor die Tür. Der Experte begleitet Michael dabei, wieder Vertrauen in sich und sein Umfeld aufzubauen. Dabei konnte er auf die Arbeit seiner Kollegin aufbauen, die begann, mit klar strukturierten Ablaufplänen, nach dem TEACCH-Ansatz zu arbeiten. Darauf aufbauend wurden die Inhalte der Fördereinheiten immer weiter ausgebaut, an seinen Kompetenzen und Vorlieben angesetzt, aber nie Zwang und Druck aufgebaut. Im Laufe von vielen Monaten hat Michael diese Arbeitsweise immer mehr angenommen und konnte sich auf neue Förderinhalte einlassen. Michael hat die beiden letzten Jahre große Meilensteine geschafft, z.B. ging er wieder mit in den Garten, er fuhr im Auto mit seinen Eltern zum Einkaufen, ging zu seiner Schwester und spazierte zu einem Spielplatz. Im Frühjahr 2022 kauften seine Eltern ein Tandem und machten mit Michael viele Touren. Es war für alle Beteiligten wie ein „kleines Wunder“ das sich Michael wieder auf solche Aktivitäten einlassen kann. Begleitet von dem Mitarbeiter des Kompetenzzentrums, der jeden Tag Menschen wie Michael besucht, sie fördert und fordert und die Eltern und Angehörigen für wenige Stunden berät und entlastet.

Elvira Seddig kann stundenlang über Michaels Leben erzählen, die guten und die schlechten Zeiten. Sie will es auch erzählen. Denn was sie erlebt hat, sollen andere nicht erleben müssen, die ein autistisches Kind haben. Dass ihr Sohn nun wieder vorsichtige Schritte in die Welt macht, bringt frischen Wind in das Haus. Diese kleinen Ausflüge bringen Hoffnung und eine Zukunftsperspektive für alle.

Thomas Rüsche-Lohr erklärt: „Was hier passiert, begeistert uns alle. Es schließt an die vielen „Phänomene“ im Leben von Menschen aus dem Autismus-Spektrum. Oft scheint eine Entwicklung zu Ende oder erst gar nicht möglich, doch auch im Autismus-Spektrum gilt: Lebenslanges Lernen ist möglich und geht nicht gibt es nicht!“

Hör-Tipp: Thomas Rüsche Lohr und Marina Wirz vom Kompetenzzentrum für Menschen mit Autismus werden am Dienstag, 28. März, zwischen 8.30 und 9.30 Uhr, beim Talk "Nahe dran" bei Antenne Bad Kreuznach, Fragen darüber beantworten, wie sich ein Familienleben mit der Diagnose Autismus gestaltet und welche Hilfestellungen das Kompetenzzentrum bietet. Anlass ist der Weltautismus-Tag am 2. April 2023. Die Sendung können Sie auch im Anschluss in der Mediathek von Antenne hören.