Viele haben die Bilder vom September 2015 noch vor Augen: Lange Schlangen von Männern, Frauen und Kindern, die zu Fuß über die „Balkanroute“ flüchteten, um Krieg und Terror in Syrien zu entgehen. Einer von ihnen war Shirsaban Ahmad, der mit seinem Onkel unterwegs war und schließlich als einer der ersten Jugendlichen in der neuen Wohngruppe der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe Bad Kreuznach der Stiftung kreuznacher diakonie auf der Bad Kreuznacher „Pfingstwiese“ einen Platz fand.
Der damals Zwölfjährige war zunächst mit seinen Eltern aus den gefährlichen Kriegsgebieten in Syrien entkommen. Von der Türkei brach er schließlich gemeinsam mit seinem Onkel auf, um nach Deutschland zu gelangen, die Familie des Onkels lebte schon hier. Zwei riskante Anläufe brauchten sie, um mit einem Boot Griechenland zu erreichen. Dann ging es zu Fuß und per Bus weiter nach Trier, wo die Familie des Onkels wohnte. Dort angekommen zogen die Verwandten jedoch fort. Ein trauriger Moment für den Jungen, doch das Jugendamt kümmerte sich um ihn. „Es war nicht schön, alleine zurück zu bleiben, aber richtig Angst hatte ich nicht. Ich wusste, dass sich die deutschen Behörden um mich kümmern würden. Das gab mir ein sicheres Gefühl.“
Langjährige Erfahrung in der Begleitung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen
Zurecht – das bestätigt Sonja Orantek, Leiterin der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe Bad Kreuznach. „Als Jugendhilfeträger hatten wir schon seit den 1990-er Jahren Erfahrung mit unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen und haben schon lange mit dem für Rheinland-Pfalz koordinierenden Jugendamt in Trier zusammengearbeitet“, berichtet sie. Schon früh haben die Kooperationspartner in ihrer Jugendhilfepraxis ein Clearingverfahren entwickelt und erprobt, das einen individuellen Zukunftsplan für die jungen Flüchtlinge erarbeitet. Das Verfahren wurde zunächst vom Land Rheinland-Pfalz und später bundesweit übernommen.
Auch Shirsaban erhielt einen persönlichen Fahrplan und lebte sich schnell in der Gruppe auf der Pfingstwiese ein, wo Kinder und Jugendliche aus Somalia, Eritrea, Afghanistan und Syrien wohnten. Bereits im September wurde der Zwölfjährige für die 5. Klasse der Realschule Plus angemeldet, wo er sich gut eingewöhnte und Dank des Fachs „Deutsch als Fremdsprache“ schnell Erfolge hatte. Die deutsche Sprache war auch Grundlage für das Beisammensein in der Gruppe. „Es war dort nie langweilig – wir haben Ausflüge gemacht und einmal sogar Urlaub an der Nordsee“, erzählt er ein wenig wehmütig. Gemeinsam wurden Feste gefeiert und im Alltag übernahmen die Jugendlichen regelmäßig Dienste, die ein fester Plan vorgab: „Da lernt man, nicht faul zu sein,“ sagt der 21-jährige mit einem Grinsen. In seiner Freizeit verbrachte der Ronaldo-Fan viel Zeit auf dem Fußballplatz in Planig. „Die täglichen Pflichten im Haushalt bereiten die Jugendlichen auf die Selbstständigkeit vor und Aktivitäten in Gruppen, wie Fußballtraining oder Musikunterricht, helfen ungemein bei der Integration“, unterstreicht Sonja Orantek.
2019 kam Shirsabans Schwester mit ihrer Familie nach Deutschland. Gemeinsam zogen sie in eine Wohnung in der Nähe von Bad Kreuznach. Nach dem Hauptschulabschluss ging es für den jungen Mann gleich weiter in der Berufsbildenden Schule, nächstes Jahr steuert er das Abitur an. Und wie sieht die Zukunft aus? „Genau weiß ich es noch nicht – vielleicht studiere ich Wirtschaft.“ Schon jetzt jobbt er regelmäßig in einem Restaurant, sodass er sich Führerschein und ein Auto leisten konnte. Zudem unterstützt er seine Eltern, die inzwischen auch nach Deutschland kommen konnten. Sie profitieren von seinen Deutsch- und Alltagskenntnissen.
Seine alte Gruppe auf der Pfingstwiese besucht er regelmäßig und freut sich, mit „den kids“ zu sprechen. Viele fänden „Kinderheim“ nicht gut, aber: „Eigentlich ist es prima: Die Erzieherinnen kümmern sich um alles – ansonsten heißt es nur die Schule besuchen und ‚chillen‘. Wenn ich dagegen heute nach Hause komme, dann muss ich erstmal zehn Briefe aufmachen und checken – das ist nicht schön.“
Das Konzept der Wohngruppe hat sich inzwischen geändert: In der interkulturellen Gruppe leben heute zehn Jugendliche aus Deutschland und anderen Ländern. Zum 1. August ist der Umzug aus dem angemieteten Gebäude auf der Pfingstwiese auf den zentraler gelegenen Campus der Stiftung kreuznacher diakonie geplant. „Hier können wir auch die Infrastruktur der Stiftung besser nutzen“, freut sich Einrichtungsleiterin Sonja Orantek über die positive Entwicklung dieser besonderen Gruppe.